Manfred Spieker | 18.05.2021
„Aufrecht geblieben“
Nachruf auf Pater Anton Rauscher SJ
Am 21. Dezember 2020 starb Pater Anton Rauscher SJ in Augsburg im Alter von 92 Jahren. Sein Tod ist ein großer Verlust nicht nur für die katholische Kirche in Deutschland. Seine unermüdliche Tätigkeit für die Vertiefung und politische Umsetzung der katholischen Soziallehre nach dem II. Vatikanischen Konzil über ein halbes Jahrhundert hinweg kam dem Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft und den Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Deutschland zugute. Darüber hinaus war er einer der ersten Sozialethiker, die die Relevanz der Abtreibungsproblematik für die Sozialethik erkannten. Deshalb wurde er schon 1985 Mitglied der Juristen-Vereinigung Lebensrecht. Dem Herausgeberbeirat der „Zeitschrift für Lebensrecht“ gehörte er bis zu seinem Tod an. Rauscher war eine „Ikone der katholischen Soziallehre“ und ein „Global Player“, dem großer Anteil daran zukam, „dass sich die kirchliche Soziallehre nicht allein innerhalb der Kirche abspielt“, so Norbert Bude, der Oberbürgermeister von Mönchengladbach bei der Feier zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2008.
Geboren am 8. August 1928 in München, studierte Rauscher nach seinem Abitur 1947 am Theresien-Gymnasium Philosophie und Theologie: zunächst in Freising, der damaligen Priesterausbildungsstätte der Erzdiözese München und Freising, und dann in Rom, wo er am 10. Oktober 1953 zum Priester geweiht wurde. An der Gregoriana begegnete er dem Sozialethiker und Berater von Papst Pius XII., Gustav Gundlach SJ, der für sein weiteres Leben mehrfach entscheidende Weichen stellte. Gundlach betreute Rauschers Dissertation über das Subsidiaritätsprinzip und die berufsständische Ordnung in der Enzyklika „Quadragesimo anno“. Nach der Promotion am 18. Mai 1956 trat Rauscher der Societas Jesu bei, in der er immer ein Solitär blieb. Der Orden schickte ihn zunächst zum Noviziat nach Irland und dann nach Japan, wo er an der Sophia-Universität in Tokyo als Dozent für Sozialethik tätig war. Nach der Rückkehr nach Deutschland 1960 begann er ein von der DFG und dem Auswärtigen Amt sowie der japanischen Regierung gefördertes Habilitationsprojekt über den deutschen Nationalökonomen und Berater der japanischen Regierung Hermann Roesler. Er studierte gleichzeitig an der Universität Münster Wirtschaftswissenschaften und arbeitete am Institut für Christliche Sozialwissenschaften in der Katholisch-Theologischen Fakultät, das von Joseph Höffner und, nach dessen Ernennung zum Bischof von Münster im Jahr 1962, ab 1964 von Wilhelm Weber geleitet wurde. Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster erteilte ihm am 12. Juni 1968 die Venia Legendi für das Fach Christliche Sozialwissenschaften. Anfang 1971 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der neu errichteten Universität Augsburg, den er bis zu seiner Emeritierung am 30. September 1996 innehatte. In Augsburg unterrichtete er Studenten nicht nur der Katholischen Theologie, sondern auch der Wirtschaftswissenschaften. Unter seinen zahlreichen Ämtern in der akademischen Selbstverwaltung sei nur eines hervorgehoben: Von 1972 bis 1975 war er Vizepräsident der Universität.
Im Rückblick mag die Tätigkeit Rauschers an der Universität Augsburg wie eine Nebentätigkeit aussehen, denn bereits 1963 hatte er die Leitung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach übernommen. Die KSZ war von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) am 12. Februar 1963 gegründet worden mit dem Ziel, die katholische Soziallehre in Deutschland im Geiste des gerade stattfindenden II. Vatikanischen Konzils fruchtbar zu machen. Der erste Direktor, Pater Gustav Gundlach SJ, der bei der Konzeption der KSZ eine wesentliche Rolle gespielt hatte, war bereits am 23. Juni 1963 gestorben. Rauscher wurde mit gerade einmal 35 Jahren von der DBK auf Vorschlag von Bischof Joseph Höffner gebeten, vorläufig die Leitung zu übernehmen. Er behielt sie über 47 Jahre hinweg bis zum 31. März 2010. In dieser Funktion wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Da er auch bald Berater und von 1979 bis 1992 Sekretär der Kommission für gesellschaftliche Fragen der DBK wurde, hatte er erheblichen Einfluss auf die Bischöfe und ihre Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen. Rauscher pendelte zwischen seinen drei Arbeitsstellen in Mönchengladbach, Augsburg und Bonn, nahm aber alle drei Aufgaben gleichermaßen mit großem Verantwortungsbewusstsein, beeindruckender Souveränität und nachhaltigem Erfolg wahr. Dabei fand er, wie die Herausgeber einer Festschrift zu seinem 65. Geburtstag 1993 voller Anerkennung feststellten, „immer noch Zeit zu intensiven Gesprächen mit seinen zahlreichen Schülern über deren Promotions- und Habilitationsvorhaben“. Der Verfasser kann das nur bestätigen: Obgleich kein Schüler Rauschers, stellte ein langes Gespräch mit ihm im Frühjahr 1973 in Mönchengladbach die Weichen für sein Habilitationsprojekt über „Legitimitätsprobleme des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland“. Von 1981 bis 1994 war Rauscher zusätzlich Beobachter des Hl. Stuhls im Lenkungsausschuss für Sozialpolitik des Europarates in Straßburg, in dem der Verfasser von 1996 bis 2001 sein Nachfolger wurde.
In vier Feldern hat sich Rauscher als Direktor der KSZ bleibende Verdienste erworben: 1. dem Zusammenführen der Sozialethiker der deutschsprachigen Länder; 2. in der dauerhaften Pflege internationaler Kontakte; 3. in der Gründung einer, Aktualität und wissenschaftliche Seriosität vereinenden, Schriftenreihe mit dem Titel „Kirche und Gesellschaft“ sowie 4. in der Organisation einer breiten sozialethischen und historischen Forschung, die zu zahlreichen Publikationen führte und im „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ 2008 ihren Höhepunkt fand.
Doch bevor diese vier Felder näher beleuchtet werden, ist noch auf seine Mitwirkung am Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 einzugehen. Nachdem die Bischöfe nach dem II. Vatikanischen Konzil dazu übergegangen waren, vor den Bundestagswahlen nur noch dazu aufzurufen, zur Wahl zu gehen, aber keine politischen Themen mehr anzusprechen, die als Wahlempfehlung hätten verstanden werden können, veröffentlichten sie im September 1980 einen Hirtenbrief, der unter vier Themen auch eine Warnung vor der zunehmenden Staatsverschuldung enthielt. Aufsehen erregte vor allem der Satz: „Die Ausweitung der Staatstätigkeit, die damit verbundene Bürokratisierung und die gefährlich hohe Staatsverschuldung müssen jetzt korrigiert werden“. Der heftige Protest des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt gegen diese Kritik und gegen die „Politiker in der Soutane“ brachte den Hirtenbrief, die „Bombe der Bischöfe“, so „Die Zeit“, tagelang in die Schlagzeilen. Der „Spiegel“ hatte schnell den „erzreaktionären Jesuiten Anton Rauscher“ als Urheber ausgemacht. Rauscher, der selber seine Arbeit für die bischöfliche Kommission als „nicht einfach“ bezeichnete – „weil nicht der Eindruck entstehen durfte, als ob der Sekretär den Gang der Beratungen bestimmte“ -, hatte in seinem von den Bischöfen übernommenen Entwurf jedoch nicht nur die Staatsverschuldung kritisiert, sondern auch drei weitere Problembereiche angesprochen: die Bedeutung von Ehe und Familie, die Verantwortung des Staates für die Sicherung des Friedens und an erster Stelle den Schutz des ungeborenen Lebens. Es sei schmerzlich, „feststellen zu müssen, dass die Menschen in unserer Gesellschaft vielen ungeborenen Kindern das Recht auf Leben verweigern und dass unsere Rechtsordnung dieses Grundrecht nicht mehr umfassend schützt“.
Mit den Sozialethiker-Tagungen begann die KSZ 1968. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die Katholische Soziallehre wegen ihrer naturrechtlichen Orientierung sehr gefragt. An fast allen Fakultäten für Katholische Theologie waren Professuren für Katholische Soziallehre errichtet worden. In der Diskussion über die „paritätische Mitbestimmung“ in den 60er Jahren divergierten die Positionen der Sozialethiker erheblich – vom gewerkschaftsnahen Oswald von Nell-Breuning SJ bis zum arbeitgebernahen Basilius Streithofen OP. Rauscher gelang es, Vertreter aller Positionen nach Mönchengladbach einzuladen. Bis 1976 fanden die Konferenzen alle zwei Jahre, danach jedes Jahr statt. Sie behandelten Themen von hoher Aktualität aus der Perspektive der Sozialethik und verschiedener Nachbardisziplinen. Die Sozialethiker diskutierten Fragen der politischen Ethik und der Wirtschaftsethik mit Verfassungsrechtlern, Nationalökonomen, Politikwissenschaftlern, Soziologen, Historikern und Moraltheologen sowie mit Vertretern aus Politik und Verbänden. Vorträge und Zusammenfassungen der Diskussionen publizierte Rauscher zunächst in sieben Einzelbänden und seit der Tagung 1979 in der Reihe „Mönchengladbacher Gespräche“. Von 1980 bis zur Übergabe seines Amtes an seinen Nachfolger Peter Schallenberg 2010 erschienen 30 Bände.
Die internationalen Kontakte, die Rauscher zum großen Nutzen der Katholischen Soziallehre in Deutschland pflegte, hatten einerseits drei Länderschwerpunkte, nämlich Polen, USA und Südkorea, und andererseits einen thematischen Schwerpunkt, nämlich die Befreiungstheologie. Polen war während der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa das einzige Land mit einer katholischen Universität (Lublin) und verschiedenen Fakultäten/Akademien für Katholische Theologie, an denen auch die Katholische Soziallehre unterrichtet wurde. Durch die Wahl des Erzbischofs von Krakau, Karol Wojtyla, zum Papst 1978 und durch das mehr als 26 Jahre dauernde Pontifikat Johannes Pauls II. erhielt die Katholische Soziallehre nicht nur in Polen einen kräftigen Schub. Bereits 1979 lud Rauscher mehrere polnische Kollegen zur Tagung der Sozialethiker nach Mönchengladbach ein. Ihre Vorträge sind im ersten Band der „Mönchengladbacher Gespräche“ zum Thema „Christliche Soziallehre unter verschiedenen Gesellschaftssystemen“ dokumentiert. Höhepunkt der Kontakte mit Polen in der Zeit vor der Wende war ein einwöchiges Seminar deutscher und polnischer Sozialwissenschaftler und -ethiker zum Thema „Subsidiarität“ im Juni 1986 im Gästehaus der Katholischen Universität Lublin in Kazimierz Dolny, an dem auch die Konrad-Adenauer-Stiftung beteiligt war. Nach der Wende weiteten sich Rauschers Initiativen auf ganz Mitteleuropa aus. Zwischen 1994 und 2003 organisierte er sieben Europa-Foren, um die Sozialethiker Deutschlands und Mitteleuropas miteinander in Kontakt zu bringen. Am 31. Mai 1999 verlieh ihm die Katholische Universität Lublin die Ehrendoktorwürde.
Für Rauschers Kontakte in die USA war seine Freundschaft mit Jude Dougherty, dem langjährigen Dekan der Philosophischen Fakultät der Katholischen Universität von Amerika in Washington, D.C., sehr hilfreich. Während Dougherty, der wenige Wochen nach Rauscher am 6.März 2021 verstarb, einen Kreis von rund 20 englischsprachigen Teilnehmern einlud, darunter zahlreiche Kollegen, aber auch Unternehmer und Bischöfe, unter ihnen die Kardinäle Burke und Pell, gelang es Rauscher, rund 20 deutschsprachige Kollegen für die gemeinsamen Kolloquien zu gewinnen, darunter auch den Vorsitzenden der DBK, Karl Lehmann, und den Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bernhard Vogel. Die Kolloquien fanden alle zwei Jahre statt, abwechselnd in Deutschland – meist in Wildbad Kreuth mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung – und in den USA, so in Washington D C., St. Louis, Chicago, Detroit und Philadelphia. Die Vorträge der Kolloquien publizierte Rauscher zweisprachig in der Reihe Soziale Orientierung im Verlag Duncker und Humblot.
Kontakte zu koreanischen Doktoranden im Fach Katholische Soziallehre in Deutschland, die nach ihrer Promotion Professoren in Seoul wurden, führten zu deutsch-koreanischen Kolloquien, in deren Mittelpunkt die Probleme der Wiedervereinigung unterschiedlicher Gesellschaftssysteme standen. Das Interesse in Südkorea an der Wiedervereinigung Deutschlands war groß. Rauscher organisierte zwischen 1997 und 2007 sechs derartige Kolloquien mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung. Sie werden bis heute von der Katholischen Universität Eichstätt weitergeführt. Am 1. September 1998 ernannte die Sogang-Universität in Seoul Rauscher zum Gastprofessor, und am 25. Oktober 2005 verlieh sie ihm die Ehrendoktorwürde. Sehr hilfreich war Rauscher auch bei der Gründung der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre, die auf die Initiative von Patrick de Laubier (Genf) und dem Verfasser zurückging. Er lud den Kreis der Gründer – darunter den späteren Erzbischof von Reims Gérard Défois und den Vorsitzenden der Christlichen Gewerkschaften Frankreichs Jean Bornard – für den 25./26. Oktober 1986 in das Maternus-Haus nach Köln ein. Bis heute trifft sich diese Vereinigung, der Vertreter verschiedener christlicher Konfessionen angehören – darunter auch der Erzbischof von Canterbury und Primas der Anglikanischen Kirche, Justin Welby – einmal jährlich zu einer Konferenz.
Was den thematischen Schwerpunkt seiner internationalen Kontakte, die „Theologie der Befreiung“, betrifft, die in den 70er und 80er Jahren die katholische Kirche nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa, vor allem in Rom, sehr beschäftigte, so war Rauscher eine der Säulen des Arbeitskreises „Kirche und Befreiung“, der 1973 vom Bischof und späteren Kardinal von Essen, Franz Hengsbach, und dem Generalsekretär des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) und späteren Kardinal, Alfonso Lopez Trujillo, gegründet wurde. Aufgabe des Arbeitskreises war es, nach Lösungsansätzen der Katholischen Soziallehre für die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme Lateinamerikas zu fragen und bestimmten Varianten der „Theologie der Befreiung“ entgegenzutreten, die, fasziniert von der „marxistischen Analyse“, diese Lösung nicht von Reformen, sondern vom Klassenkampf und der Revolution erwartete. Die während der Tagungen dieses Arbeitskreises gehaltenen Vorträge wurden im Verlag Pattloch publiziert. Im Auftrag der DBK unternahm Rauscher zusammen mit mehreren Kollegen auch mehrwöchige Reisen nach Lateinamerika und Afrika, um die sozialen und politischen Verhältnisse und die Resonanz der Befreiungstheologie zu studieren.
Zu den Aufträgen der KSZ gehörte laut Gründungsmemorandum die Unterstützung der sozialen Bildung in den Diözesen und Verbänden „durch Erarbeitung wissenschaftlicher Materialien“. Schon der 1890 in Mönchengladbach gegründete „Volksverein für das katholische Deutschland“ hatte diesen Bildungsauftrag, den er bis zu seinem Verbot durch die Nationalsozialisten am 1. Juli 1933 mit großem Erfolg wahrgenommen hatte. Die „Grüne Reihe“, die Rauscher 1973 startete, sollte diesen Auftrag erfüllen. Unmittelbarer Anlass für die ersten Hefte war die Absicht der Jungdemokraten der FDP 1972, das partnerschaftliche Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland zu ändern und die Kirche aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Jährlich erschienen in dieser Reihe, deren Bezeichnung auf die Farbe des Umschlags zurückgeht, zehn Hefte von jeweils einem Druckbogen, also 16 Seiten. Rauscher gelang es, diese auch für den schulischen Unterricht sehr hilfreiche Reihe immer aktuellen Themen zu widmen und für ihre Bearbeitung kompetente Autoren zu gewinnen, darunter oft die Protagonisten der jeweiligen Debatte, so der Bildungspolitik (Hans Maier), der Sozialpolitik (Norbert Blüm), der Währungs- und Finanzpolitik (Hans Tietmeyer), der Rechtspolitik (Willi Geiger, Josef Isensee, Paul Kirchhof) oder der Politik des Aufbaus der ostdeutschen Länder (Bernhard Vogel). Rauscher sorgte dafür, dass der Schutz sowohl des ungeborenen als auch des zu Ende gehenden Lebens in dieser Reihe kontinuierlich und aus verschiedenen Perspektiven thematisiert wurde (Robert Spaemann, Vincens Lissek, Willi Geiger, Manfred Spieker, Clemens Breuer, Heinrich Pompey, Eberhard Schockenhoff, Herbert Tröndle, Adolf Laufs, Felix Raabe, Daniel Rhonheimer,). Dabei verteilte er nicht nur die Themen an die Autoren, sondern hatte oft auch genauere Vorstellungen für ihre Bearbeitung. Dem Verfasser schrieb er am 23. Mai 1986 einen dreiseitigen Brief, in dem er seine Gedanken zur Verpflichtung nicht nur der Parteien, „die sich christlich nennen“, sondern aller Parteien zur Änderung des Abtreibungsstrafrechts darlegte, „weil es sich in dieser Frage um das fünfte Gebot handelt, das allen Menschen ins Herz geschrieben ist“. Bis zu seinem Ausscheiden aus der KSZ erschienen 371 Hefte. Die Reihe wurde auch von seinem Nachfolger fortgeführt und erreichte bis Ende 2020 475 Hefte.
Bei der Organisation der Forschung zur Geschichte des deutschen Katholizismus sowie zur Implementierung der Katholischen Soziallehre in Deutschland wurde Rauscher von einer „Wissenschaftlichen Kommission“ unterstützt, die 1977 bei der KSZ eingerichtet wurde. In dieser Kommission, „die sich durch Sachverstand und Initiativfreude auszeichnete“, wie Rauscher 2017 schrieb, wurden Projekte besprochen und vergeben, von den beiden Taschenbuchbänden „Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963“, die 1981 und 1982 im Verlag Olzog erschienen und eine weite Verbreitung fanden, bis zum „Handbuch der Katholischen Soziallehre“(2008). Die Aufklärung über die Entwicklung des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert und über den Beitrag des Katholizismus zur Gestaltung der Staats- und Gesellschaftsordnung Deutschlands war Rauscher ein großes Anliegen, dem vor allem die „Beiträge zur Katholizismusforschung“ dienten. Für die 39 Bände in den zwei Reihen „Quellentexte“ (15 Bände) und „Abhandlungen“ (24 Bände) gewann Rauscher kompetente Autoren. Das gilt auch für die 14 Hefte der Reihe „Katholische Soziallehre in Text und Kommentar“, an deren Veröffentlichung sich die drei katholischen Sozialverbände – der Bund katholischer Unternehmer, die Katholische Arbeitnehmerbewegung und der Kolpingverband – beteiligten. Es gilt ebenso für die gemeinsam mit seinem Mitarbeiter in der KSZ, Günter Baadte, herausgegebene Reihe „Kirche heute“ mit neun Bänden und für die Reihe „Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts“, deren erste zwei Bände von Rudolf Morsey herausgegeben wurden, während die Bände drei bis zwölf von Rauscher zusammen mit Morsey und Jürgen Aretz besorgt wurden. In Band 12 (2007) verfasste er selbst den Artikel über Wilhelm Weber. Zusammen mit Weber und, nach dessen Tod 1983, mit Lothar Roos war er ab 1969 Herausgeber der „Abhandlungen zur Sozialethik“, von denen bis 2008 im Verlag Schöningh 50 Bände erschienen. Höhepunkt seiner Fähigkeit, kompetente Kollegen zusammenzuführen, war das „Handbuch der Katholischen Soziallehre“, in dem 65 Autoren in 81 Beiträgen, gegliedert in 14 Kapitel, alle Themen der Katholischen Soziallehre bearbeiteten. Es wurde von Rauscher in Verbindung mit Jörg Althammer, Wolfgang Bergsdorf und Otto Depenheuer im Verlag Duncker und Humblot herausgegeben.
Rauscher verstand es nicht nur, kompetente Kollegen für seine Forschungs- und Buchprojekte zu gewinnen, er verstand es auch, Stiftungen und potente Spender zu überzeugen, ihm die notwendigen Mittel für seine Projekte zur Verfügung zu stellen. Er war ein Meister im Organisieren und Finanzieren sozialethischer Forschung, ein „Magier des Wissenschaftsbetriebs“ (Morsey). Die Stiftung Humanum verlieh ihm für seine Verdienste um die Katholische Soziallehre 2011 den Augustin-Kardinal-Bea-Preis. Das Preisgeld von 30.000 Euro ging ein in seine Stiftung zur Förderung der katholischen Soziallehre. Diese Stiftung dient dem Ziel, die von den Päpsten seit Leo XIII. entwickelten Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen und der Völker für die Klärung aktueller Fragen fruchtbar zu machen.
Bei aller Organisation von Forschung unterließ es Rauscher aber nie, selbst zentralen Fragen des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft nachzugehen. Das zeigen nicht nur die 39 Hefte in der Grünen Reihe, die er selbst verfasste, sondern auch seine „Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung“, die in vier Bänden mit zusammen rund 2800 Seiten unter dem Titel „Kirche in der Welt“ zwischen 1988 und 2006 im Verlag Echter erschienen. Im Vorwort zum vierten Band stellte er selbst bedauernd fest, dass ihm die Doppelbelastung von Universität und KSZ größere Untersuchungen nach Dissertation und Habilitation nicht mehr erlaubt habe. Aber sein naturrechtlicher Ansatz hat ihn immer wieder angespornt, Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft, in Staat und Wirtschaft im Lichte der Katholischen Soziallehre zu analysieren. Aus dem personalen Menschenbild der Katholischen Soziallehre ergab sich für Rauscher der Dienstcharakter von Staat und Gesellschaft. Die „personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens“, so der Titel der Festschrift zu seinem 65. Geburtstag im Jahr 1993, verteidigte Rauscher immer wieder gegen ideologische Ansätze in den Sozialwissenschaften und auch in der Theologie. Papst Benedikt XVI. würdigte dies in einem Brief, den er Rauscher zum 80. Geburtstag schickte: „Viele Jahrzehnte hindurch haben Sie die katholische Soziallehre entwickeln geholfen und sie im öffentlichen Gespräch, in der politischen und gesellschaftlichen Praxis gegenwärtig gehalten. Dabei musste eine schwierige Periode bestanden werden, in der religiös gefärbte Ideologien mit großen Versprechungen die nüchterne Arbeit der katholischen Soziallehre beiseite zu schieben und durch Utopien zu ersetzen versuchten. In diesem ideologischen Nebel, dem sich allzu viele bereitwillig gebeugt haben, sind Sie aufrecht geblieben und haben mit Ihrer unbestreitbaren Sachkompetenz zu den realen politischen und ökonomischen Problemen Stellung genommen und sie von den ethischen Einsichten des Glaubens her beleuchtet. So haben Sie zur Bildung der Gewissen und zu verantwortlichem gesellschaftlichen Handeln aus dem Glauben und seiner Vernunft heraus einen wichtigen Beitrag geleistet, der die Ideologien überdauert“.
Dieser Nachruf erscheint in Heft 1/2021 der Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL).